Sweatshops – Moderne Sklaverei?!

Nachdem wir vor ein paar Tagen Benjamin Powells vielbeachtete Verteidigung der Sweatshopproduktion verlinkt und auf uns haben wirken lassen, wird es aber nun wirklich Zeit, Powells soziopolitisch kontextloser Statistik den Spiegel der Realität entgegenzuhalten.

Es mag sein, dass in Powells lateinamerikanischer Untersuchungsgruppe die Sweatshoplöhne deutlich über den Durchschnittslöhnen liegen. Die Erkenntnis, die hinter dieser Beobachtung steht ist auch nicht besonders schwer: niemand arbeitet für weniger als er zum Überleben braucht, außer er wird dazu gezwungen. Und natürlich sind Menschen bereit, ihren Wohnort zu verlassen und für einen höheren Lohn zu schwitzen und zu leiden, wenn Sie damit der Familie zuhause helfen können. Aus einseitig wirtschaftsliberaler Sicht lässt sich das sogar als Fortschritt ansehen, aus philantropischer Sicht zum Teil auch akzeptieren.

Das Problem ist nur: Lateinamerika ist nicht die Welt! Ordnet man die gefundenen Daten nach Regionen, wird sehr schnell deutlich, dass es z.B. in Südasien ganz anders aussieht. Hier erreicht man mit einer 70h-Woche nur knapp mehr als den nationalen Durchschnitt. In Bangladesh und Indonesien liegt man bei den gesetzlich vorgeschriebenen 40h pro Woche deutlich unterhalb der gesetzlichen Mindestlöhne, die in diesen beiden Ländern ohnehin schon unterhalb der Armutsgrenze liegen. In diesen beiden Ländern die Familie allein durch den Sweatshoplohn zu versorgen gleicht der Quadratur des Kreises. Um zu überleben muss hier die ganze Familie arbeiten, inklusive der Kinder.

Fazit:

- Sweatshops in Südamerika können u.U. einen Fortschritt darstellen und Chancen für einen engagierten und fleißigen Arbeiter bieten.
- Sweatshops in Südasien führen bei allem Fleiß zur Verarmung der Arbeiter und letztendlich auch zum Auftreten ausbeuterischer Kinderarbeit!

Die kulturelle Kontextblindheit ist nicht der einzige Schwachpunkt von Powell’s Ansatz. Ein weiterer ist die vollkommene Ausblendung des informellen Sektors. Powell beachtet nur legale Arbeit. Nach Angaben der IAO arbeiten jedoch in der Textilindustrie weltweit nur ca. 10-20% der Beschäftigten legal, etwa 26,5 Millionen. Die Zahl der informell Beschäftigten wird auf 132-265 Millionen mit einem Frauenanteil von 80-90% geschätzt. Zu glauben, dass diese auch nur annähernd ähnliche Löhne bekommen wie die offiziell Beschäftigten, ist, mit Verlaub, naiv. Und zu glauben, dass Markenjeans und T-Shirts nur von offiziell Beschäftigten hergestellt werden, ebenso.

Zudem sind informelle Beschäftigung, Sklavenarbeit, Zwangsarbeit und Leibeigenschaft in Südasien nicht unbedingt nur der Rückhall, bzw. die letzten Übrigbleibsel eines Jahrhunderte alten Feudalsystems, sondern – so paradox es klingt – Folge der gesellschaftlichen Modernisierung. Die wirklichen Probleme der Landbevölkerung begannen Ende des 19. Jahrhunderts, als die britische Landreform das alteingessene Zamindari-System formal beendete, denn die abgeschaffte Leibeigenschaft lebte im indischen Kreditvergabewesen weiter. Die eigenen Kinder, sei es als Arbeitskraft oder einfach nur als Ware, als Kreditsicherheit zu verpfänden wurde für viele Bauern und Landbewohner die einzige Chance die schützende und verteilende Hand des Zamindars zu ersetzen. Und das hat wenig mit kultureller Rückständigkeit, sondern vielmehr mit Not zu tun. Not macht erfinderisch!

Die Zamindari von heute sind die großen Agrar- und Saatgutmultis. Bei Ihnen ist die südasiatische Landbevölkerung bis über die Halskrause verschuldet und arbeitet auf den Feldern für weniger als Nichts: der Schuldenabbau kann in den meisten Fällen nicht einmal annähernd die Kosten des neuen Kredits für Saatgut, Pestizide und Dünger decken. Doch im Gegensatz zu den früheren Großgrundbesitzern, die den Wert ihrer Landbesteller noch kannten, zeigen sich die modernen Sklavenhalter unbarmherzig. Gentechnik, Patente, Terminatorsaatgut… alles Mittel, um den verarmten Bauern auch noch die letzte Chance zu nehmen, der Verschuldungsspirale jemals zu entkommen.

Die Folgen dieser Gier sind katastrophal! Noch nie in der gesamten Menschheitsgeschichte war Sklavenhaltung so billig wie heute. Durchschnittlich 70 Euro kostet ein Mensch auf dem Schwarzmarkt. Das ist bereinigt etwa ein Fünfhundertstel des Weltmarktpreises von 1850. Professionelle Schlepperbanden durchforsten in Südasien die Dörfer, erzählen von den unglaublichen Zukunftschancen, die das Kind in der Stadt hätte und versprechen den verzweifelten Eltern regelmäßige Zahlungen. Auch wenn einem das Verständnis für das individuelle Handeln der Eltern fehlt, man kann ihnen kaum einen Vorwurf machen. 70 Euro sind in Südasien ein guter Preis für eine bessere Zukunft. Auch wir schicken unsere Kinder fort auf Musik- oder Sportschulen, Internate… Es erübrigt sich dabei das “Ja aber…”, das Messen von Talent, das Vergleichen von Ausbildungschancen zwischen Erster und Dritter Welt. Verzichtet man auf die Betrachtung von Relationen und setzt das Handeln der Eltern absolut, bleibt nur noch die Erkenntnis, dass diese Eltern derselben Motivation folgen wie auch wir: der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Im Gegensatz zu uns sehen diese Eltern ihre Kinder jedoch in der Regel nie wieder. Sie verschwinden als kostenlose Arbeitskräfte in Steinbrüchen und Minen, in Teppichknüpfereien oder Textilmanufakturen. Sweatshops eben. Bei 27 Millionen geschätzten Sklaven weltweit bringt es allein Südasien auf 18 Millionen. Sie hauen dort unsere Grab- und Pflastersteine, knüpfen unsere Teppiche und nähen unsere Kleidung. Diese Kinder sollten Kathy Lee Gifford ganz bestimmt nicht auffordern, “nicht um sie zu weinen”, wie es Powell zu zynisch von den honduranischen Kindern verlangt.

Folgt man schließlich angesichts dieser Situation Powells perfider Nullsummenlogik, müsste man schließen, dass bei steigenden Löhnen in den Sweatshops auch die Zahl der Sklaven zwingend steigen müsste, da die gut bezahlten, legalen Arbeiter die nicht qualifizierten Billiglöhner in die Arbeitslosigkeit, bzw. die informelle Beschäftigung verdrängen würden. Der dritte und zudem wichtigste Fehler in Powells Analyse, denn die Realität hat zumindest in Südasien die Gültigkeit dieser Annahme bereits widerlegt: die Sklaverei ist mehr als nur partiell eine Folge der Billiglöhne. Seine statistische Beweisführung schwebt nunmehr vollständig in der Luft:

bezugslos, zweideutig und letztendlich überflüssig!

Einen Kommentar schreiben: